06.01.2021

Die Diskrepanz zwischen Erlebnis und Bildwirkung

Schon mehrfach habe ich mich in diesem Blog darüber ausgelassen, dass Fotos nicht die Realität zeigen. Dazu sind sie einfach nicht in der Lage. Fotos können nicht zeigen, was rechts und links, oben und unten außerhalb des Bildes stattgefunden hat. Sie zeigen keine Gerüche, keine Geräusche, keine Temperaturen (selbst auf einem Schneebild: ob es -2 oder -20 Grad hatte, sieht man meistens nicht). Fotos blenden einen so großen Teil der Realität aus, dass fast nichts mehr davon übrig bleibt.

Aber auf der anderen Seite sind sie auch gnadenlos realistisch, indem sie die Gefühle des Fotografen ebenfalls ausblenden. Das bedeutet: Ein besonderes Erlebnis ergibt oft kein besonderes Foto ‐ außer für dich selbst, weil du die Erinnerung damit verknüpfst. Aber niemand sonst, der das Bild sieht, hat diese Erinnerung. Andere Leute sehen nur die bunten Pixel und haben keine Ahnung, was zwei Meter weiter hinten oder fünf Minuten zuvor passiert ist. Gleichzeitig kann ein Bild, mit dem man als Fotograf keine besonders schöne Erinnerung verbindet, auf andere Betrachter viel positiver wirken als auf den Fotografen selbst.

Diesen Widerspruch zwischen Erlebnis und Bildwirkung möchte ich an einem Beispiel erläutern, das ich kürzlich selbst erlebt habe.

Die Planung

Ein Großteil der Landschaftsfotos entsteht ja folgendermaßen: Man geht raus, genießt die frische Luft und die Natur, und zwischendurch denkt man: "Ach, ist das schön". Dann zieht man das Handy heraus und knipst ein Bild. Fertig. Schöne persönliche Erinnerung, für andere Betrachter relativ aussagelos.

Ambitionierte Hobby-Landschaftsfotografen gehen da anders vor. Wir überlassen möglichst wenig dem Zufall, stattdessen informieren wir uns vorher genauestens über Wetter, Beschaffenheit der Landschaft, Sonnenstand usw. ‐ aber ohne Emotionen geht es trotzdem nicht, egal wie penibel man geplant hat.

An diesem Morgen herrschte eine Hochnebel-Wetterlage. Bei Ostwind im Winter ist die Nebelobergrenze oft höher als der Feldberg, also hat man eigentlich keine Chance auf Sonne. Aber an manchen Tagen entsteht am Feldberg ein Föhneffekt, der westlich davon den Hochnebel auflöst. Dann kann man vom benachbarten Stübenwasen beobachten, wie der Nebel über den Feldberg schwappt, und hat dabei blauen Himmel über sich und einen Blick ins weitgehend nebelfreie Tal unter sich ‐ etwa so wie auf diesem Bild von vor acht Jahren.

Stübenwasen; Inversionswetterlage mit Wolkenauflösung durch Ostwind vom Feldberg

So etwas wollte ich wieder erleben. Nur noch besser. Denn damals hatten die Bäume an meinem Standort zuvor schon so viel Sonnenschein abbekommen, dass sie ihre Schneebedeckung verloren hatten. Diesmal würde ich dick verschneite und vereiste Bäume im Bild haben. Jetzt musste sich der Nebel nur noch richtig verhalten.

Die Umsetzung

Wie gesagt: Auch als ambitionierter Landschaftsfotograf entwickelt man eine emotionale Bindung zu seinen Bildern. Wenn man erst mal mehr als 200 Höhenmeter bewältigen muss, dann ist ein Bild gleich viel mehr wert, als wenn es beim Sonntagsspaziergang entstanden ist. Umso enttäuschender ist dann, wenn der Nebel nicht das tut, was man von ihm erwartet hat. Er ist nicht über den Feldberg geschwappt wie erhofft. Der Feldberg war nebelfrei. Das war mein Standort dagegen nicht wirklich. Der Blick ins Tal wollte einfach nicht richtig frei werden. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.

Winterlandschaft auf dem Stübenwasen

Bestimmt trotzdem ein schönes Bild für Leute, die nicht dabei waren. Ich finde es ja auch ganz nett. Aber ich hatte mir mehr erhofft. Was hätte das für Bilder geben können, wenn man ein bisschen mehr vom Tal gesehen hätte ...

Der "Wow"-Moment

Es war keine Zeit mehr, auf bessere Verhältnisse zu warten. Ich musste zurück zum Parkplatz ‐ und entdeckte dabei eine vom Weg abzweigende Schneeschuh-Spur. Sie führte zwischen den Bäumen hindurch, und dahinter sah es so aus, als könnte sich noch eine Aussicht ergeben. Einen Versuch war es wert.

Hinter den Bäumen lichtete sich tatsächlich der Wald, der Blick ins Tal wurde frei, und an dieser Stelle sogar fast ohne Nebel. Nach der Anstrengung und Enttäuschung, die ich zuvor erlebt hatte, ein großartiger Moment. Da wurden die Glückshormone spürbar. Und es war mir egal, als die Schneeschuhspur mich nicht mehr trug und ich auf einmal doch wieder hüfttief im Schnee steckte. Der Moment war einfach überwältigend. Genau dafür hatte ich die Strapazen auf mich genommen.
Emotionale Bindung zum folgenden Bild: Maximal.

Winterlandschaft auf dem Stübenwasen

Aber eigentlich ist das Bild nichts wirklich Besonderes.
Für den Hochschwarzwald irgendwie austauschbar. Klar, schon hübsch, die weißen Bäume, das Licht auf ihren Spitzen und die Landschaft, die dahinter zu erahnen ist. Es ist ein schönes Bild. Aber nichts von meinem Erlebnis und meinen Gefühlen ist darauf zu erkennen. Das Foto könnte genauso gut bei einem kurzen Halt an einem überfüllten Parkplatz an der Schwarzwaldhochstraße entstanden sein (abgesehen davon, dass der Schnee dort nicht mehr ganz unberührt gewesen wäre).

Der Schnappschuss vom Rückweg

Nach diesem ungeplanten Abstecher musste ich in größter Eile den Rückweg antreten und durchgeschwitzt und unterkühlt mit durchnässter Hose in Richtung Parkplatz hetzen. Direkt neben dem stark frequentierten Weg, quasi Wanderer- und Langläufer-Autobahn, erblickte ich dann noch ein paar verschneite Fichten und einen netten Lichteinfall. Fichten sehe ich jeden Tag zuhauf, und Aussicht gab es an der Stelle auch keine, aber das Licht war gut, also halt doch noch mal eben die Kamera herausgeholt und eine schnelle Aufnahme gemacht. So, jetzt aber schleunigst zurück zum Parkplatz.
Emotionale Bindung zum Bild: Nicht wirklich vorhanden.

Winterlandschaft auf dem Stübenwasen

Aber eigentlich ist das doch ein besonderes Bild.
Diese ganz spezielle Lichtstimmung, unterstützt von den Nebelfetzen, die gerade in diesem Moment über die Bäume fliegen, den Blick auf sich ziehen und Tiefenwirkung erzeugen. Wie eine Explosion über dem Wald. Und dass man nicht genau sieht, was hinter den Bäumen passiert, macht das Bild gerade interessant und regt die Fantasie an. Das Bild hat nichts damit zu tun, was ich an diesem Morgen eigentlich fotografieren wollte, aber ist eindeutig mein bestes von diesem Ausflug geworden.

Noch ein paar Beispiele ...

Zum Abschluss möchte ich euch noch ein paar Bilder aus dem letzten Herbst zeigen. Ihr dürft gerne die Bilder erst mal auf euch wirken lassen und euch vorstellen, was der Fotograf wohl gedacht hat, als er sie aufgenommen hat. Die tatsächlichen Gedanken stehen jeweils unter den Bildern.

Herbstabend auf dem Kybfelsen

Fast geschafft, gleich bin ich auf dem Kybfelsen. Moment, da singt jemand? Was ist da los? Ich fass es nicht. Eine 8er-Studenten-WG belagert den Felsen. Warum gerade hier? Könnt ihr nicht wenigstens euer MenschenLebenTanzenWelt-Gedudel abschalten? Mal sehen, vielleicht kann ich mich untenrum an ihnen vorbeischleichen. OK, hier ist auch ein bisschen Aussicht. Was gibt es da zu glotzen? Könnt ihr euch nicht einfach verpissen und eure Party daheim machen?


Frühnebel am Schluchsee

Na toll, warum bin ich nicht gleich hierher gefahren? Jetzt habe ich das beste Licht an einem unbrauchbaren Ort verschwendet, hier wäre es viel besser gewesen. Was soll's, stelle ich halt kurz das Auto ab und knipse ein Bild auf der anderen Seite der Bundesstraße. Besser als nix.


Spätherbstliche Inversion auf dem Herzogenhorn

Fast geschafft, gleich bin ich auf dem Herzogenhorn. Immer so schön einsam hier bei Sonnenaufgang. Hm, da sind Leute. Oh. Noch mehr. WTF?! Was geht hier ab? 1, 2, 3, ... 15 ... und das ist höchstens die Hälfte. Mindestens 30 Leute! Bei Sonnnenaufgang! Habt ihr nichts Besseres zu tun? Was gibt es da zu lachen? Lasst mich einfach schnell meine Bilder machen. Grausam, ich will heim ...

Und ‐ hättet ihr erraten, was der Fotograf bei den Aufnahmen gefühlt hat?

Genauso wenig kann ich erraten, was ihr bei den Bildern empfunden habt, die ihr in den sozialen Netzwerken zeigt. Deshalb ist es immer gut, kurz darüber nachzudenken, wie ein Bild auf jemanden wirkt, der nicht dabei war, bevor man es öffentlich zeigt. Und am besten ist es natürlich, wenn man sich diese Gedanken schon während der Aufnahme macht und mit einer gewissen emotionalen Distanz an die Sache herangeht. Aber ich weiß, das ist ziemlich viel verlangt ‐ auch für mich selbst, wie gerade ausführlich beschrieben ...



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